Die Autoren spannen einen großen Bogen, der weit über die digitalen Aspekte heutiger Führung hinausgeht, und umreißen die hohe Komplexität des Themas.
Wer sich bereits kritisch mit dem Thema Führung und virtuelle Teams / Kommunikation auseinandergesetzt hat, wird in diesem Buch wenig völlig Neues entdecken. Dennoch ist es lesenswert, obwohl es dem Leser nicht leicht gemacht wird: dem Rezensenten drängt sich der Vergleich eines Steinbruches auf, in dem wertvolle Stoffe gefunden werden können, nachdem man einiges Material (welches sicherlich für jeden Leser anders ist) weggeschafft hat. Manche Exkurse tauchen unvermittelt auf und erläutern ausführlich Offensichtliches wie bspw., dass uneingeschränkte Offenheit sich in ihr Gegenteil verkehrt. Auch die Aneinanderreihung von Zitaten erschwert das Lesen. Es öffnet sich dadurch aber auch dem Leser der große Wissensfundus der Verfasser, der zum Stöbern in den Quellen einlädt. Neben vielen aktuellen Literaturhinweisen finden sich Verweise zu Klassikern wie Chris Argyris, Ed Schein, Ludwig Wittgenstein, Peter Senge, Otto Scharmer, Paul Watzlawick, Friedeman Schulz von Thun u.a.
Die Autoren skizzieren die aktuelle Wertediskussion und beschreiben die Risiken, sich auf technologische und effizienzorientierte Perspektiven zu begrenzen. Sie beschreiben die unterschiedlichen Generationskulturen mit ihren jeweiligen Lebens- und Arbeitspräferenzen, auf die sich Führungskräfte einstellen sollten. Hier wird der Bogen über die Generationen Y und Z in die digitale Welt geschlagen. Hybride Arbeitsplätze entstehen. Analoge und digitale Welten treffen aufeinander und digitale Führungskompetenz ist erforderlich. Für Ciesielki und Schutz ist sie eine Querschnittskompetenz, die verschiedene Teil- und Schlüsselkompetenzen beinhaltet. Hier werden neben der fachlichen Kompetenz die klassischen Felder Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Teamfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit aufgeführt. In Ergänzung dazu werden Medienkompetenz und Interkulturelle Kompetenz als die essentiellen Bestandteile der digitalen Führungskompetenz benannt. Das in der hybriden Arbeitswelt notwendige Führungs-Know-how ist jedoch – Medienkompetenz ausgenommen – nicht grundlegend neu.
Der Verdienst dieses Buches besteht darin, bekannte Erfahrungen und (neue) Standards hinsichtlich guter Führung im Lichte der digitalen Welt upzudaten und deren Bedeutung hervorzuheben. So wird im Kapitel »Führung verkörpern«, kritisch das Risiko der sinnlichen Amputation in der digitalen (Arbeits-)Welt beschrieben, um daraus zu schließen, dass gerade dieser Digitalität die analoge Körperlichkeit bewusst zur Seite gestellt werden muss. Die Autoren nennen es »Körperwissen«, das in Orientierungs-, Entscheidungs- und Führungsprozesse hineingeholt werden muss. In diesem Kontext führen sie professionelles Geschichtenerzählen an. Eine Geschichte ist erst dann gut, wenn sie einen Sinn ergibt. »…Sinn ergeben heißt, die Sinne beleben. ( …) Es bedeutet, mit wachen Sinnen im Hier und Jetzt sein« (David Abram, zitiert nach Ciesielski/Schutz 2016). Digitale Führung erfordert eine konzentriert gute Erdung des Virtuellen, eine hohe Präsenz und zuweilen auch »Mut in der direkten Konfrontation mit Kollegen, Vorgesetzten, Kunden … .»
Eine im Steinbruch unerwartete Preziose befindet sich im Kapitel »From Goal to Role». Hier werden kompakt »Spiele in Organisationen« skizziert. Die Chance, sich in Spielen auszuprobieren und behaupten zu können besteht ganz praktisch und spielend leicht im Improvisationstheater. Rollenerwartungen, Rollenwechsel, Rollenspiele, Spiel mit den Identitäten sind theaterpädagogische Lern- und Entwicklungsfelder, die auch mit Lust erforscht werden können.
Eine wichtige Improvisationstheater- und zugleich Führungskompetenz liegt in der Fähigkeit, sich spontan in einer unbekannten Situation zurechtzufinden und im Kontakt mit dem Anderen das Spiel zu spielen. Allerdings ist im Führungsalltag dieses kontaktvolle Spiel mitunter sehr anstrengend und erfordert den oben erwähnten Mut zur Konfrontation. Diese Fähigkeit ist auch ein unverzichtbares Element im Umgang mit dem immer häufiger auftretenden Phänomen der »strukturierten Verantwortungslosigkeit«, welches die Autoren zu Recht beklagen.
Der »Milleniumsjugend, die als erste Generation in den virtuellen Räumen des Internets aufwächst« und sich ein »dramaturgisches Bewusstsein« der Selbstinszenierung zugelegt hat, wünscht der Rezensent (Generation Baby Boomer), das von den Autoren empfohlene »Co-Bewusstsein« (Fähigkeit zur Selbstbeobachtung) gegenüber ihrer Persönlichkeitsvielfalt, damit sie sich nicht verliert. Hier haben die Autoren einen wertvollen Hinweis für das Führungshandeln unter zukünftigen Bedingungen gegeben.
(Martin A. Ciesielski / Thomas Schutz: Digitales Führen , Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016)